(Frau Miriam Meckel, Professorin für Corporate
Communication)
Kreative Zerstörung
Die Schublade hat ausgedient. An
ihre Stelle treten die Algorithmen. Sie ersetzen menschliche Ordnung durch
effizientes Chaos.
Die meisten Menschen lieben
Ordnung. Das akribische Sortieren aller lebensweltlichen Erfahrung in
vorhandene Kategorien garantiert einen Rest an Seelenfrieden, der durch die
chaotische Welt ja schon genug herausgefordert wird. Je komplexer das Leben,
desto wichtiger die Ordnung, um wenigstens eine Illusion der Beherrschbarkeit
aufrechtzuerhalten.
Als Sinnbild hierfür steht die
Schublade. Der Begriff des „Schubladendenkens“ aggregiert den kompromisslosen
Sortier- und Kategorisierdrang des Menschen zum Schimpfwort. Wer dem
Schubladendenken frönt, ist geistig nicht sehr flexibel.
Provokativ und doch auch
realistisch müssen wir bei genauerem Hinschauen allerdings feststellen, dass
der menschliche Kleingeist der Welt schlicht nicht gewachsen ist.
Die Natur käme beispielsweise
nicht darauf, auf jedem einzelnen Feld und jeder Wiese ordentlich sortiert
immer dieselben Pflanzen, Früchte oder Gemüse wachsen zu lassen. Sie bietet
vielmehr Wildwuchs und kreatives Chaos.
Vielleicht findet sich darin auch
irgendwie eine geheime Ordnung. Wahrscheinlicher ist das Gegenteil: Die
zufällige Kombination des Verschiedenen ist die Kraft der Blüte und der
Evolution.
Es ist der Mensch, der schlechte
Ergebnisse erzielt, wenn er immer dieselben Getreide- oder Gemüsesorten auf
demselben Feld anpflanzt. Diese „Ordnung“ laugt den Boden aus, fördert
Pilzbefall und lässt die Erträge sinken. Fruchtfolgen sind notwendig, um der
Natur ihren Spielraum zu lassen. In der Landwirtschaft wie auch im Denken.
Es ist spannend zu beobachten,
wie nun Künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz in ihrem Verständnis
von Ordnung herausfordert. Wer glaubt, in einem der fußballfeldgroßen
Amazon-Warenlager seien Produkte nach Kategorien geordnet und gelagert, der
irrt.
Dort liegen iPad-Hüllen neben
Gesichtscremes, Vibratoren neben Gartenscheren. Jedes Produkt wird mit einem
Barcode versehen und lässt sich damit tracken, egal, wo es sich gerade
befindet. Produkte werden dort gelagert, wo gerade Platz ist. Der Einzige, der
in diesem Chaos noch den Durchblick hat, ist der Algorithmus. Der US-Journalist
Brad Stone hat das System, genannt „Mechanical Sensei“, 2013 in seinem
Bestseller „Der Allesverkäufer“ beschrieben. „Sensei“ kommt übrigens aus dem
Japanischen und bedeutet „der früher Geborene“ oder „der Lehrer“. Und dieser
mechanische Lehrer zeigt uns Menschen, wie man durch Unordnung Effizienz
steigern kann.
Lagerten alle Produkte einer
Kategorie an derselben Stelle, die Arbeiterinnen und Arbeiter müssten viel
längere Wege zurücklegen, um einzelne Bestellungen auf den Weg zu bringen. Das
kostet Zeit und Geld.
Über das Softwaresystem lässt
sich die optimale Route errechnen, mit dem jedes Produkt in welcher Reihenfolge
eingesammelt, verpackt und auf den Weg gebracht wird. Der mechanische Lehrer
ist also die unsichtbare Hand, die jeden Lieferprozess strukturiert, und zwar
vollständig anders, als eine menschliche Ordnung dies tun würde.
Das ist nur ein Beispiel für die
Disruption menschlicher Ordnung durch digitale Technologien und Künstliche
Intelligenz. Der US-Technologiephilosoph David Weinberger hat diese Entwicklung
schon 2007 in einem bemerkenswerten Buch über „Das Ende der Schublade: die
Macht der neuen digitalen Unordnung“ analysiert.
Seine zentrale These: Bislang
waren unsere Möglichkeiten, Ordnung in die Dinge zu bringen, durch die
Gesetzmäßigkeiten der physischen Welt beschränkt. Digitale Technologien geben
uns immer neue Möglichkeiten des Sortierens an die Hand und erlauben uns, alles
immer zu finden.
Das klappt im Internet
beispielsweise durch Tags für Websites und Hashtags auf Twitter. Aber es
funktioniert auch im Umgang mit der physischen Welt, wie das Beispiel Amazon
zeigt. Der Algorithmus ersetzt die ineffiziente Ordnung des Menschen durch die
effiziente Unordnung der ubiquitären digitalen Nachverfolgung von einfach
allem.
Die Schublade hat also
ausgedient. Sie kann maximal noch Ablageort für die Ordnungsrelikte
nostalgischer Geister sein. Gerade in Deutschland allerdings ist die Liebe groß
für eine Ordnung, die Gleiches zu Gleichem gesellt. Ein bisschen mehr Chaos
könnten wir durchaus gebrauchen.
Veröffentlicht im Handelsblatt am
30. Juni 2021
Anmerkung Steuerberater Joachim
Siegmund: So oder so ähnlich funktioniert die Belegsammlung innerhalb eines
Dokumentenmanagementsystems auf Ihrem Server, einem externen Rechenzentrum oder
in der Cloud. Für Ihre Buchführung müssen sich die Geschäftsvorfälle in ihrer
Entstehung und Abwicklung so verfolgen lassen, dass sie einem sachverständigen
Dritten innerhalb angemessener Zeit einen Überblick vermitteln können. Sie sind
nachweispflichtig, dass es sich um die Originalbelege handelt und die Belege,
Buchführung und Aufzeichnungen nicht verändert werden können. Die
Finanzverwaltung, nicht der Bundesfinanzhof (wie fälschlicherweise öfter
behauptet wird), verlangt dazu von Ihnen in ihren Grundsätzen ordnungsgemäßer
Buchführung eine Verfahrensdokumentation.
Mein Fazit: Chaos, wie oben
beschrieben, ja, aber nichts für Chaoten.